Header-Grafik

Störformen im Sozialverhalten von Schweinen

(Schwanz- Flanken- und Ohrenbeißen) 
Dr.Reinhold Heggemann, Hauptstr. 11, 25782 Tellingstedt 

Die Verhaltensstörungen Schwanz-, Flanken- und Ohrenbeißen werden auch häufig mit dem Begriff „Kannibalismus“ beschrieben. Kannibalismus ist per Definition die rituelle Tötung oder Verzehr der eigenen Art in höchster Not. Insofern ist es zumindest fragwürdig, ob der Begriff Kannibalismus überhaupt in der Tierhaltung eine Berechtigung hat, denn rituelle Handlungen oder höchste Not, also Verhungern, kann man Schweinen und Haustieren generell wohl nur schwerlich unterstellen. Insofern sollte der Begriff „Kannibalismus“, auch im Hinblick auf die Außenwirkung, tunlichst vermieden werden!

Begriffe wie Störung des Sozialverhaltens, Verhaltensstörung, hyperaktives Verhalten oder aggressives Verhaltenssyndrom umschreiben das Phänomen Schwanz-, Flanken oder Ohrenbeißen dann schon treffender. Diese Verhaltensstörungen muß man als physischen und/oder psychischen Anpassungsversuch des Individuums verstehen. Alle normalen Formen der Aggressivität haben generell nicht zum Ziel, unterlegene Tiere auszurotten, sondern nur, Eindringlinge und Rivalen zu vertreiben. Aggressivität ist auch das Mittel, das biologische Umfeld für sich und die Nachkommenschaft zu sichern und auch die Selektionsmöglichkeit für besonders vitale Tiere und somit letztendlich ein wichtiger Beitrag zur Arterhaltung. Natürliche Aggressivität wie auch Aktivität muß sich im Gleichgewicht mit Ausweichmaßnahmen wie z.B. Flucht oder Möglichkeiten der Beschäftigung befinden. Ist das Gleichgewicht gestört, kommt es eben zu unerwarteter, unerwünschter oder anormaler Aggressivität / Aktivität. Die Aufklärung der möglichen Ursachen muß unter Berücksichtigung der Häufigkeit, Art und Zeitpunkt des Auftretens, der Genetik und der Umweltbedingungen versucht werden.

Um möglichst viele Ansatzpunkte und praktische Erfahrungen zu berücksichtigen, führten wir bei www.pigpool.de im Nov. / Dez. 2000 eine Umfrage zu dieser Thematik durch. Den 139 Teilnehmern der Umfrage an dieser Stelle ein herzliches „Danke schön“! Die Antworten waren, wie nicht anders zu erwarten, sehr vielfältig und wir haben versucht sie zu ergänzen und zu strukturieren. Lesen Sie zu dieser Thematik auch unbedingt den Artikel: Schwanzbeißen - Die Checkliste!


Flankenbeißen
Dieser Begriff ist insofern irreführend, handelt es sich hierbei doch weniger um Beißen, als vielmehr um ein Massieren der Flankengegend. Dieses Verhalten ist auf noch nicht befriedigten Saugreflex der Tiere zurückzuführen und setzt in aller Regel unmittelbar nach dem Absetzen der Ferkel von der Sau ein. Diese Leerhandlung des „Gesäuge massierens“ wird häufig über Monate beibehalten, da die massierten Tiere selten oder erst dann Abwehrbewegungen zeigen, wenn großflächige Hautwunden entstanden sind. 

Gleiches gilt im übrigen auch für das Urinsaufen bzw. Penissaugen. Tiere mit diesem Verhalten können nur aus der Gruppe entfernt werden und einzeln oder in einer anderen Gruppe mit deutlich älteren Tieren gehalten werden.

Vorbeugemaßnahmen sind ausreichend lange Säugezeit. Die vom Gesetzgeber vorgeschriebene Säugedauer von mind. 21 Tagen darf und sollte keinesfalls unterschritten werden. Entscheidend ist ebenfalls die Anfütterung der Ferkel nach dem Absetzen. Wichtig sind Futter mit einem hohen Anteil an hochverdaulichen Milchbestandteilen, aufgeschlossenem Getreide und einer hohen Akzeptanz. Die Anfütterung bereits an der Sau sollte auf jeden Fall versucht werden, da Sie den Übergang von Muttermilch auf festes Futter wesentlich erleichtert und Ernährungslücken, in denen sich dann das Fehlverhalten ausbilden kann, erst gar nicht entstehen. 

Ein anderer wesentlicher Punkt ist die Wasserversorgung nach dem Absetzen. Sollte Flankenmassieren, aber auch Urinsaufen gehäuft vorkommen, ist die Tränketechnik (z.B. Gängigkeit und Höhe der Tränkenippel) zu überprüfen. Ein offene Wasser- oder Elektrolytgabe in den ersten Tagen nach dem Absetzen kann dann sinnvoll sein, wenn Ferkel nicht sofort das Trinken aus Tränkenippeln beherrschen.


Ohrenbeißen
Auch dieser Begriff muss einer näheren Betrachtung unterzogen werden. In den seltensten Fällen steht das Beißen an erster Stelle, sondern ist in der ganz überwiegenden Mehrheit als sekundär anzusehen. Primär liegt häufig eine Durchblutungsstörung der feinsten Gefäße vor, die ein Absterben von Gewebe und im Gefolge dann Juckreiz bedingt. In dieser Phase empfinden es Tiere als große Wohltat an den Ohren „beknabbert“ zu werden. Dieses wird dann fälschlicherweise als Ohrbeißen im Sinne eines gestörten Sozialverhalten diagnostiziert! In diesem Zusammenhang sollte unbedingt abgeklärt werden, inwieweit z.B. eine Eperythrozoonose Infektion vorliegt. Da die Diagnostik diesbezüglich oft nicht eindeutig ist, kann hier eine sog. diagnostische Behandlung mit Tetracyclin versucht werden.


Schwanzbeißen (SB)
Das Schwanzbeißen hat mit Abstand die größte wirtschaftliche Bedeutung. Die ist bedingt durch die Häufigkeit, aber auch durch indirekte Schäden wie z.B. aufsteigende Infektion, schlechtere Futterverwertung bis hin zu Totalverlusten. In den USA wird der wirtschaftliche Schaden auf nahezu 6 Millionen US Dollar geschätzt! 

Grundsätzlich können beim Phänomen SB zwei verschiedene Verhaltensmuster unterschieden werden: Erstens das sporadische, singuläre Auftreten und zweitens die systemische, multiple Abweichung. Bei der Ursachenerforschung des SB ist diese Unterteilung sehr hilfreich, da durch die Art und Häufigkeit des Auftretens bereits bestimmte Ursachen nahezu ausgeschlossen werden können (siehe auch den Artikel:Schwanzbeißen - Die Checkliste). Bei aller Problematik der exakten Abgrenzung kann doch aus praktischen Überlegungen heraus davon ausgegangen werden, dass bei Auftreten von Fehlverhalten in mehr als einer Bucht oder bei mehr als fünf Tieren pro Tausend (0,5 %) zur gleichen Zeit von systemischen, generellen Ursachen ausgegangen werden muss. 

Entsprechend der Ursachenhäufigkeit sollten bei SB folgende Faktoren nacheinander geprüft werden:

  1. Belegdichte:
    Zu große Belegdichte ist neben schlechter Stallklimagestaltung mit Abstand die häufigste Ursache für SB. Die in der Schweinehaltungsverordnung geforderten 0,65 m² für Tiere mit einem Gewicht von 85-110 kg werden vom Autor als nicht ausreichend erachtet. Hier sind mindestens 0,8 m², besser noch 1 m² pro Tier zu fordern. Da Mastschweine heute häufig ein Schlachtgewicht von mehr als 110 kg erreichen, sind Buchten in der Endmastphase leider häufig als überbelegt einzustufen. Für Tiere über 110 kg Gewicht fordert der Gesetzgeber bereits jetzt eine Mindestfläche von 1,0 m² Tier. 
  2. Lüftung:
    Die drei Hauptkomponenten, die hier zu SB führen können, sind Zugluft, falsche Temperaturen und zu hohe Schadgaskonzentrationen. Ein Kardinalfehler, der immer wieder anzutreffen ist, sind viel zu geringe Luftraten während der kühleren Jahreszeit. Stallklima- oder Stallwettergestaltung ist eines der beliebtesten und gleichzeitig kompliziertesten Themen in der Bestandsberatung. Hier gilt grundsätzlich: Drei Köpfe - Vier Meinungen! Dabei kann es doch gar nicht so schwer sein! Werden ein paar physikalische Grundsätze beachtet und Geld in Energie, sprich Heizung investiert, kann das Ergebnis schon mal nicht so schlecht sein. Grundsätzlich muß das Teuerste oder Komplizierteste nicht das Beste sein und viele hochtechnische Lüftungsanlagen scheitern einfach an der Bedienbarkeit (praktische Erfahrung!!!). 

    Zur Überprüfung der Lüftungsanlage oder des Stallklimas gibt es viele, z.T. hochtechnische Geräte, aber praktisch gilt hier: Beobachten Sie Ihre Tiere und prüfen Sie das Klima mit Thermometer, Nase, Ohr und Auge! Wenn Tiere sich offensichtlich unwohl fühlen (Liegeverhalten) oder hyperaktiv sind, Ihnen beim Stalldurchgang die Augen brennen (Ammoniak mit Tränenflüssigkeit ergibt Salmiak), Böden oder Wände feucht sind oder die hörbare Lüfterdrehzahl nicht zur gegenwärtigen Situation passt (z.B.: erhöhte Temperatur oder Schadgase bei niedriger Drehzahl), sollte eine detaillierte Überprüfung der Anlage stattfinden. Gute Luft im Stall ist am Ende wahrlich keine Hexerei!
  3. Futter, Fütterung:
    Dieser Bereich ist sicherlich der komplexeste, wenngleich die Bedeutung im Zusammenhang mit SB in aller Regel überschätzt wird. Standen vor Jahren mehr Fragen der adäquaten Nährstoffversorgung im Vordergrund, so sind es heute häufiger Fragen der Toxinbelastung und der Futter- bzw. Fütterungshygiene. Hierbei sind ausdrücklich auch die Vorratsilos in die Kontrolle mit einzubeziehen. 

    Die Verschiebung in den Prioritäten ist darin begründet, dass die Anzahl der Hofmischer kontinuierlich abnimmt und immer mehr industriell gefertigtes Fertigfutter mit wöchentlicher Anlieferung zum Einsatz kommt. Ein weiterer Aspekt der Toxinbelastung ist die Sortenwahl und der Anbau des Getreides. Die Wahl immer ertragreicherer Sorten und das Kurzspritzen der Halme trägt mit dazu bei, dass Toxinbelastungen durch Feldpilze immer häufiger eine Rolle spielen. 

    Ohne auf weitere Einzelheiten eingehen zu wollen (siehe auch den Artikel: Schwanzbeißen - Die Checkliste) sei aber dennoch ein ganz wichtiger Aspekt erwähnt, nämlich den der Wasserversorgung. In Betrieben mit Flüssigfütterung wird immer noch häufig auf ein zusätzliche, frei verfügbare Möglichkeit der Wasseraufnahme verzichtet. Als Argument dient häufig der vermeintlich höhere Gülleanfall. Eine zusätzliche Wasserquelle sollte und muss nach Schweinhaltungsverordnung immer vorhanden sein. Wenn sie über dem Trog installiert wird, ist auch der zusätzliche Gülleanfall fast nicht mehr existent! 
  4. Gruppenzusammenstellung:
    Wichtig ist hier die Homogenität der Gruppe in sich und auch der Zeitpunkt der Gruppenzusammenstellung bzw. der Umstallung. So sollten Neugruppierungen grundsätzlich in den späten Nachmittagsstunden oder am Abend vorgenommen werden, da dies biorhythmisch der Zeitraum mit den geringsten Aktivitäten ist. Die Tiere sollten keinem Nüchterungsstress ausgesetzt werden. Eine kurzfristige Anhebung des Blutzuckerspiegels durch Dextrosegabe (2g/kg KGW) kann sinnvoll sein.
  5. Beschäftigungsmöglichkeiten:
    Schweine sind hochintelligente Tiere und benötigen zwingend Spiel- und Kaumaterial! Untersuchungen von 1980 haben gezeigt, dass Schweine mit Kauketten in den Buchten geringere Corticosteroid Werte (ein Maß für die Stressbelastung) im Blutplasma aufwiesen als Vergleichstiere.

    Bei dem Angebot von Ablenkungsmaterial gilt es aber einige grundsätzliche Dinge zu beachten: Das Material sollte nie auf dem Boden liegen. Da es nach kurzer Zeit mit Kot verschmutzt ist, wird es nicht mehr als Spielzeug akzeptiert. Ganze Reifen sind abzulehnen, weil Tiere sich darin fangen können oder möglicherweise einen Freßplatz blockieren. Plastikmaterial wie leere Kanister oder sog. KG-Rohre sollten ebenfalls nicht verwendet werden, da Stücke davon durch die Spalten fallen und in der Pumpe zu größeren Schäden führen können. 

    Keine technischen Probleme verursacht hingegen eine Strohraufe, wenn Langstroh verwendet wird und die Raufe über dem Trog angebracht wird. Ablenkungsmaterial sollte grundsätzlich frei hängen und unbedingt „kaubar“ sein! Dazu eignen sich z.B. Ketten, alte Feuerwehrschläuche Holz- oder Gummistücke. 

    Die Anbringung sollte grundsätzlich stabil (!!) und so erfolgen, dass Bewegung entsteht, wenn in Nachbarbuchten gespielt wird (Dominoeffekt). Um Maßnahmen am Tier wie Impfung, Sortierung o.ä. nicht zu behindern, sollte die Anbringung auf keinen Fall mittig der Bucht, sondern im hinteren Drittel erfolgen! 
  6. Parasiten:
    Hier sind massiver Wurmbefall, Räude, Läuse und Fliegen zu nennen. Alle Parasiten beeinträchtigen das Wohlbefinden und führen zu vermehrter Aktivität und Aggressivität.
  7. Genetik:
    Der Einfluss der genetischen Komponente ist nicht unumstritten. Immerhin gibt es schon Untersuchungen aus dem Jahre 1961 aus den USA , wo eine genetische und vererbbare Komponente nicht ausgeschlossen wurde. Unlängst haben Wissenschaftler an der Purdue-Universität in den USA begonnen das Gen zu entschlüsseln, welches für aggressives Verhalten verantwortlich gemacht wird. Das Ziel soll die Züchtung von „sanften“ Schweinen sein. Tatsache ist, dass Verhaltensmerkmale wie z.B. Muttereigenschaften sehr wohl vererblich sind. Warum nicht also auch Neigung zur Aggressivität.

zurück zur Übersicht